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DIE GESCHICHTE EINER TIGERIN - LA STORIA DELLA TIGRE  2015 RELOADED
von Dario Fo (Literatur-Nobelpreisträger 1997)

Die "Geschichte einer Tigerin" von Dario Fo war lange Zeit das Erfolgssolo des Schauspielers Andreas Wellano. An die 30 Jahre sind es her, dass er zum ersten Mal als "verlängerter Arm Fos in Deutschland" mit diesem Stück auftrat. Die künstlerische Verwandschaft zwischen Dario Fo und Andreas Wellano ist augenfällig. Beide sind Virtuosen des Stegreifspiels, der Theatererfindung aus dem Moment heraus. Mit einer kleinen Veränderung der körperlichen Haltung, der Mimik, der Stimme gelingt es im Bruchteil einer Sekunde, Personen und Situationen auf der Bühne entstehen zu lassen. Im atemberaubenden Wechsel zwischen Erzählung und Szene werden Geschichten entworfen, die in ihrer Verrückheit den verrückten Zustand der Welt nicht nur zeigen sondern auch durchleuchten.

Ein Bühnenbild wird da nicht gebraucht. Es liegt alles in der einen Person des Komödianten.
Die "vierte Wand" zum Publikum, die geschlossene Illusion des Theaters, braucht man dazu auch nicht. Das Publikum kann angesprochen werden. Gerade aus dem frappierenden Wechsel von Illusion und Desillusionierung entsteht die größte Wirkung (und das Gelächter der Erkenntnis).
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Diese Darstellungsweise verlangt vom Schauspieler alles! Er hat nur sich als Instrument, zeigt uns aber das Drama menschlichen Handelns (und Versagens) im großen gesellschaftlichen, geschichtlichen und politischen Kontext. Kleiner ist es nicht zu haben...da müssen ganze Armeen aufmarschieren, Dörfer ratlos Rat halten, Naturkatastrophen hereinbrechen, wilde Tiere den Rachen aufreißen, um den kleinen, gar nicht mutigen Erzähler zu verschlingen, - alles zu sehen in der unglaublich wandlungsfähigen Körpersprache des Schauspielers.
Entscheidend ist, ob diese Erzählform heute noch so aktuell ist wie in den 70ern des vorigen Jahrhunderts, als Dario Fo sich diese Stücke auf den Leib schrieb. Sie ist es! – Das macht uns Andreas Wellano mit seinem Können, seinem Humor und seinem gegenwärtigen, intelligenten Zugriff ohne weiteres klar. 
In der „Geschichte einer Tigerin“ bleibt ein Soldat der Roten Armee Mao Tse Tungs auf dem berühmten „Langen Marsch“ verwundet zurück und muss sich unfreiwillig eine Höhle mit einer Tigerin und ihrem Jungen als Zuflucht teilen. Er überlebt, weil die Tigerin zu viel Muttermilch hat, und weil sie Gefallen an den Kochkünsten des unfreiwilligen Höhlengenossen findet.
Natürlich haben diese Tiger symbolische Bedeutung, stehen für Mut, Freiheitswillen, ungezähmte Kraft, - Eigenschaften, die zunächst den Dorfbewohnern und dann vor allem der Parteibürokratie äußerst suspekt sind. Die Kräfte würden sie gerne nutzen, das Gefährliche aber möglichst im Käfig unter Kontrolle halten. Dario Fos Kritik am erstarrten, die Revolution erstickenden Funktionärswesen fällt in die späten Siebziger, als K-Gruppen sich sektiererisch zankten, ob der Moskauer oder der Pekinger Weg der einzig wahre zum Paradies der Arbeiterklasse wäre. Eine lachhafte Randnotiz der Geschichte, wenn nicht heute der Funktionärskapitalismus mit roten Anstrich in China immer noch den Freiheitswillen der Nicht-Korrumpierten zu ersticken versuchte. Mit 30 oder 40 Jahren Abstand hört sich diese anarchische, Macht und Herrschaft demaskierende Geschichte neu und nicht weniger aktuell an als damals, vorausgesetzt sie wird so vielschichtig und reflektiert dargeboten wie von Andreas Wellano.  
Eine ganz neue Ebene des Spiels hat Wellano mit seiner Regisseurin Angelika Sieburg zu dem virtuosen Ritt durch die Charaktere, Typen und Situationen hinzu erfunden: Er beginnt die Erzählung auf Italienisch und berichtet von seiner ersten Begegnung mit Dario Fo. Damit holt er elegant die Zeit der Entstehung des Stücks in die Geschichte mit hinein. Der Wechsel zwischen Deutsch und Italienisch macht Lust auf eine vollständige italienische Originalfassung, wie man sie von Fo selbst erleben konnte. Aber zum Glück kann man schließlich doch alles auf Deutsch verfolgen. Die Sprünge ins Italienisch durchziehen trotzdem weiter das Stück. Sie bedeuten gleichzeitig eine Art Auszeit, ein Entspannen und Innehalten im atemlosen Strom der Erzählung. Der Schauspieler ist ja mit dem Stück auch 30 Jahre älter geworden, und indem er sich die Ruhe des völligen Aussteigens aus dem Spiel gönnt, ermöglicht er dem Zuschauer die Reflexion über die veränderten  und doch, gerade was China betrifft, in vielem gleich gebliebenen Zeiten. Wieder einmal zeigt sich der epische Ansatz, die Durchbrechung und Reflexion des Spiels, wie sie Angelika Sieburg und Andreas Wellano in vielen „epischen Versuchen“ im Wu Wei Theater durchprobiert haben, von seiner besten und produktivsten Seite. Möglicherweise hat mancher mitgealterte 68er-Zuschauer verwundert und staunend auf die eigene sektiererische Geschichte von damals zurückgeblickt. Das Kluge und Überzeugende der wiederholten Brechung der Geschichte liegt aber darin, dass nicht gleich die ganze politische Aussage Dario Fos weggeworfen wird, sondern dass gerade in der Brechung die Anwendung des sozialrevolutionären Anarchismus, wie ihn Fo mit größtem Spaß entworfen hat, auf heute möglich wird. (Dietrich Stern)

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